„Pegelstand Speyer“ von Lutz Blohm, via Flickr, CC BY-SA 2.0
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Digitalisierung der Binnenschifffahrt: Pegelstände besser berechnen und vorhersagen

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Kirsten Lange

Digitalisierung der Binnenschifffahrt: Pegelstände besser berechnen und vorhersagen

Je früher verfügbar und präziser die Vorhersagen für Wasserstände in Flüssen und Kanälen sind, desto besser können sich Binnenschiffer*innen darauf einstellen. Darauf fokussierte, innovative Datendienste und digitale Assistenzsysteme unterstützen sie darin, Fahrzeiten, Ladetermine und Auslastungen zu optimieren – und damit auch Energieverbrauch und Emissionen zu senken.

Vom Pegel hängt vieles ab, vor allem von den Pegeln des Rheins, der meistbefahrenen Wasserstraße in Deutschland. Fast 176 Millionen Tonnen Güter gingen 2019 den Rhein herunter oder herauf – bei knapp 205 Millionen Tonnen, die Binnenschiffe auf deutschen Flüssen und Kanälen insgesamt beförderten. Der Wasserstand bestimmt, wie schnell ein Binnenschiff am Zielhafen ankommt oder wie viel Ladung es überhaupt transportieren kann. So lassen sich die Schiffe bei Niedrigwasser nicht voll beladen. Bei Hochwasser kommen sie nicht mehr unter Brücken durch.

Pegelstände sind deshalb die wichtigsten Daten für Akteure in der Binnenschifffahrt: für die Kapitän*innen, die Auftraggeber*innen aus der Industrie und die Schifffahrtsunternehmer*innen. Zu Letzteren zählen Reedereien und die sogenannten Partikuliere, selbstständige Binnenschiffer*innen, die ihre eigenen Schiffe fahren.

„Wenn ich als Binnenschiffer meinem Lieblingsauftraggeber sage: Ich bin absehbar in zehn Tagen in Mannheim – dann muss ich ihm doch mitteilen können, wie viel Ladung er für meine nächste Fahrt überhaupt fertig machen soll“, erklärt Alexander Schmid vom Management- und IT-Beratungsunternehmen BearingPoint. Schmid und seine Kollegen hatten 2017 die Idee zu einem „Digitalen Schifffahrtsassistenten“, kurz: DSA, einer Web-Applikation, die die Routenplanung auf Flüssen und Kanälen erleichtern soll.

Neben einer Wasserstandsvorhersage enthält der DSA Daten zu Flussverläufen inklusive Engstellen, zu Schleusen und Brücken sowie zu Liegestellen. Nutzer*innen müssen sich diese Daten nicht mehr aus verschiedenen Quellen zusammensuchen: Eine interaktive Karte zeigt die Route mit allen Informationen an, außerdem lässt sich die Ankunftszeit berechnen. „Der DSA hilft, Kosten zu verringern, wirtschaftlich zu fahren und die Effizienz zu steigern“, sagt Schmid.

Abbildung: BearingPoint
Abbildung: BearingPoint
Abbildung: BearingPoint
Abbildung: BearingPoint
Abbildung: BearingPoint
Abbildung: BearingPoint
Eine App, die Wasserstands-, Wetter- und Hafendaten aus zahlreichen Quellen bündelt

Von September 2017 bis Ende 2018 förderte das Bundesverkehrsministerium den „Digitalen Schifffahrtsassistenten“ als Forschungsprojekt mit Geldern aus dem mFUND. Dabei spielten auch grundsätzliche Überlegungen eine Rolle: „Beim Gütertransport mit dem Binnenschiff gibt es noch viel Potenzial“, erklärt Schmid. 2019 lag der Anteil der Binnenschifffahrt an der Transportleistung des Güterverkehrs in Deutschland bei sieben Prozent, 2013 waren es noch neun Prozent.

Die niedrigen Wasserstände in zwei aufeinanderfolgenden Dürresommern führten dazu, dass weniger Güter auf Binnenschiffe verladen wurden. Demgegenüber steht das Ziel der EU-Kommission und der Bundesregierung, dass künftig mehr Güter per Bahn und Binnenschiff transportiert werden – unter anderem aus Klimaschutzgründen.

Nach Berechnungen des Umweltbundesamts (PDF) stößt ein Binnenschiff pro Tonnenkilometer 30 Gramm klimaschädliches CO2 aus – beim Lastwagen sind es mehr als 110 Gramm. Der Transport per Binnenschiff sollte also attraktiver für die Wirtschaft werden. „Wir haben überlegt“, so Schmid, „wie wir mit dem, was wir können, nämlich Digitalisierung, einen Beitrag dazu leisten können.“

Tabelle: Emmett. Quelle: Umweltbundesamt
Tabelle: Emmett. Quelle: Umweltbundesamt

Die Daten für den „Digitalen Schifffahrtsassistenten“ bezogen Schmid und sein Team aus unterschiedlichen Quellen:

  • als offene Datensätze von der Wasserstraßen- und Schifffahrtsverwaltung des Bundes,
  • von den Hochwasserzentralen der Länder,
  • von der Bundesanstalt für Gewässerkunde,
  • vom Deutschen Wetterdienst,
  • von den Häfen und
  • über Google Maps.

Die Programmierer*innen bei BearingPoint entwickelten einen DSA-Prototypen, der auf einer Cloud-Plattform lief. Sechs Monate lang testeten Binnenschiffer*innen, Reedereien und Industrievertreter*innen den DSA. Verbesserungsvorschläge arbeiteten die IT-Expert*innen bei BearingPoint direkt in den Prototypen ein.

„Unser Feldtest hat gezeigt, dass der Digitale Schifffahrtsassistent – da er alle wichtigen Informationen für die Routenplanung in einer App bündelt – eine sehr sinnvolle Alternative ist zu den verschiedenen Quellen, bei denen sich Binnenschiffer ihre Infos einzeln zusammensuchen müssen“, sagt DSA-Projektleiter Schmid von BearingPoint. Das Projekt habe außerdem bestätigt: Für alle Nutzer*innen seien die digitale Verfügbarkeit und die Visualisierung von Pegelvorhersagen ein großer Mehrwert.

Mehr zum Anliegen und zur Bilanzierung des DSA-Projekts lesen Sie im Emmett-Interview mit Alexander Schmid.

Ausführliche Informationen zu den Projektergebnissen finden sich im Forschungsbericht.

Titelblatt des Forschungsberichts zum Projekt „Digitaler Schifffahrtsassistent“, Quelle: BearingPoint
Titelblatt des Forschungsberichts zum Projekt „Digitaler Schifffahrtsassistent“, Quelle: BearingPoint
10-Tages-Wasserstandsvorhersage für den Rhein

Die Daten zum Pegelstand im DSA stammen aus dem gewässerkundlichen Informationssystem „Pegelonline“ sowie aus dem Elektronischen Wasserstraßen-Informations-Service ELWIS der Wasserstraßen- und Schifffahrtsverwaltung des Bundes. Die Vorhersagen für ELWIS entlang von Rhein und Donau liefert die Bundesanstalt für Gewässerkunde (BfG) mithilfe eines komplexen Wasserstandsvorhersage-Systems (WAVOS).

Die Software-Module verarbeiten täglich hunderttausende Informationen, unter anderem stündliche Messdaten von mehr als 600 Wetterstationen, Prognose-Daten mehrerer Wetterdienste sowie Wasserstandsmeldungen von verschiedenen Orten am Rhein und an Flüssen, die in den Rhein münden.

Screenshot: Emmett
Screenshot: Emmett

Am DSA-Projekt arbeitete Dennis Meißner mit, der bei der Bundesanstalt für Gewässerkunde (BfG) als Experte für Wasserstandsprognosen tätig ist. Zusammen mit Forscher*innen der Technischen Universität (TU) Berlin waren er und eine Kollegin für die Optimierung der Wasserstandsvorhersagen zuständig. Ein neuer Ansatz in dem Projekt: Die Wissenschaftler*innen der TU trainierten künstliche neuronale Netze erfolgreich darauf, Wasserstände des Rheins bis zu zehn Tage vorherzusagen. Dazu fütterten sie die Netze mit Wasserstandsdaten aus den vergangenen Jahren und mit Pegelvorhersagen aus Modellen der BfG.

„Wir hatten schon vor dem DSA-Projekt an exakteren Vorhersagen und an erweiterten Modellen gearbeitet, mit denen wir weiter als bisher in die Zukunft schauen können“, erklärt Meißner. „Das Projekt hat uns da noch einmal vorangebracht und uns neue Perspektiven eröffnet. Wir wurden darin bestätigt, dass eine 10-Tages-Vorhersage möglich ist und dass sie gebraucht wird.“ Nach etwa einem Jahr Testbetrieb veröffentlichte die BfG Ende 2019 offiziell ihre 10-Tages-Wasserstandsvorhersage für den Rhein.

Bis zu diesem Zeitpunkt war über ELWIS ausschließlich eine 4-Tages-Vorhersage abrufbar. Auch diese hat für Binnenschiffer*innen eine wichtige Funktion, weil sie sehr genau ist. „Für die Schiffsführer ist es oftmals vor allem wichtig zu wissen, wie hoch beispielsweise der Wasserstand am Pegel bei Kaub am nächsten Tag um 12 Uhr ist“, erklärt Meißner. „Sie müssen sichergehen, dass sie an diesem Nadelöhr am Mittelrhein nicht auf Grund laufen. Diese stundengenaue Info gibt ihnen die 4-Tages-Vorhersage.“

In der Binnenschifffahrt ist mehr Digitalisierung notwendig

Logistiker*innen wiederum interessiert ein Zeitraum von mehreren Wochen bis Monaten. Sie brauchen Antworten auf Fragen wie: Wie viele Schiffe muss ich in den nächsten Wochen einplanen, um meine Rohstoffe von A nach B zu bringen? Muss ich Produkte lagern, bis ich sie per Schiff weiter transportieren kann? Sollte ich meine Produkte diesen Sommer besser mit der Bahn transportieren lassen?

Industriekunden reiche häufig ein Überblick, so Meißner: „Sind die Wasserstände über- oder unterdurchschnittlich oder im mittleren Bereich? Damit können sie schon anfangen, Lieferketten zu planen.“ Wie wichtig dieser Ausblick auf kommende Wochen ist, zeigte der Sommer 2018. Die niedrigen Wasserstände brachten Transport- und Lieferketten durcheinander. Konzerne wie BASF mit dem Stammwerk in Ludwigshafen mussten die Produktion einschränken und machten hohe Verluste. Als Konsequenz erarbeiteten Unternehmen, die vom Gütertransport auf dem Rhein abhängig sind, gemeinsam mit dem Bundesverkehrsministerium im Jahr 2019 den Aktionsplan Niedrigwasser Rhein.

Teil dieses Aktionsplans ist eine 6-Wochen-Prognose, die Meißner und seine Kolleg*innen zurzeit in einem Forschungsprojekt entwickeln. Die Bundesanstalt für Gewässerkunde (BfG) arbeitet dafür mit verschiedenen Unternehmen zusammen, die diese 6-Wochen-Vorhersage testen und den BfG-Expert*innen Rückmeldungen geben. Der Chemiekonzern BASF hat die 6-Wochen-Prognose bereits in sein internes Frühwarnsystem für den Rhein einbezogen.

Mit „etwa zwei Handvoll interessierter Industrie- und IT-Unternehmen“ hat Alexander Schmid von BearingPoint gesprochen. Der „Digitale Schifffahrtsassistent“ ist nach Ende des Forschungsprojekts nicht zu einem eigenständigen Produkt für den Markt weiterentwickelt worden. Doch, so Schmid, das Projektziel, dass Unternehmen Teile des DSA in ihre Anwendungen übernähmen, sei erreicht worden.

„Für die Zukunft der Binnenschifffahrt – und für einen ökologischeren Güterverkehr – ist es entscheidend, dass die Digitalisierung in der Branche vorangeht“, sagt Schmid. „Der ,Digitale Schifffahrtsassistent’ hat dafür einen sehr guten Beitrag geleistet.“

Vorhersagen für Wassermengen in Elbe und Rhein

Wissenschaftlerinnen am Alfred-Wegener-Institut für Polar- und Meeresforschung wiederum entwickelten ein Rechenmodell, mit dem sie die Wassermengen in Elbe und Rhein sogar über einen Zeitraum von bis zu drei Monaten vorhersagen können. Für ihr Modell analysierten Monica Ionita und Viorica Nagavciuc globale Meeres- und Klimadaten aus den vergangenen 70 Jahren.

„Wie jede Vorhersage hat auch unsere Vorhersage eine Unsicherheit“, sagt Ionita. Dennoch ist das Interesse an der Prognose groß. Laut Ionita kommen diverse Anfragen aus der Wirtschaft, unter anderem von Schifffahrts- und Logistikunternehmen, einem Mineralölkonzern oder einem Trinkwasserversorger.

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