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Mehr Daten zum Radverkehr – dank Bürger*innenbeteiligung

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Zuletzt bearbeitet am

Andrea Reidl

Mehr Daten zum Radverkehr – dank Bürger*innenbeteiligung

Den Bedarf für Radbügel per App melden. In digitalen Simulationen beantworten, welche Straßenarchitekturen am sichersten sind. Und in Online-Planungskarten verfolgen, wie es um den Ausbau der Fahrradinfrastruktur steht. So beziehen innovative Projekte die Verkehrsteilnehmer*innen ein – und liefern Stadtplaner*innen wertvolle Daten.

„Aachen bekommt bis Ende 2020 1.000 neue Radbügel.“ Diese Ankündigung seines Oberbürgermeisters (OB) brachte Michael Pielen vor einem Jahr ganz schön ins Schwitzen. Der OB hatte die Bürger*innen aufgefordert, ihre Vorschläge ins Rathaus zu schicken. Sie sollten dann online auf einer Karte zu sehen sein.

„Ein Radbügelmelder ist zwar kein Raketendesign“, sagt Pielen, zuständig für die Digitalisierung der Verkehrssysteme in Aachen. Sein Problem war der Zeitrahmen. Innerhalb von zwei Wochen sollte das Meldetool einsatzbereit sein. Zum Selbermachen fehlte Pielen schlichtweg die Zeit – er brauchte einen fertigen Radbügelmelder.

Das Berliner Unternehmen FixmyBerlin hatte einige Monate zuvor im Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg eine entsprechende Meldeplattform ausprobiert. Per Mausklick markierten die Stadtbewohner*innen auf der interaktiven Planungskarte, wo Radbügel fehlten. Deren Tool nutzte Pielen nun auch für Aachen, um möglichst schnell zu einem Ergebnis zu kommen.

Die Nachfrage nach solchen digitalen Planungstools für Bürger*innen und Verwaltungen steigt nicht nur in Aachen. Auch andere Städte, wie Berlin oder Wien, nutzen zunehmend digitale Werkzeuge, um die Akzeptanz neuer Verkehrskonzepte besser bestimmen zu können oder Ideen im Vorfeld zu testen. Der Trend zeigt, dass die Verkehrswende weit mehr ist als der Umbau der Straße. Sie ist ein Kulturwandel, der von den Planer*innen und Entscheider*innen neue Denk- und Arbeitsweisen fordert.

Verschiedene Start-ups entwickeln derzeit smarte Tools, um Planungsprozesse transparenter zu gestalten und die Kommunikation zwischen Planer*innen und Bürger*innen zu verbessern. FixmyBerlin gehört auf diesem Gebiet momentan zu den Vorreitern. Dafür wurden die Gründer vom Bundesverkehrsministerium (BMVI) im Rahmen des mFUND-Förderprogramms gefördert.

Die Perspektive der Nutzer*innen

Werden Konzepte für neue Radwege entwickelt, ist häufig nicht klar, wie die Bürger*innen darauf reagieren. Um hier mehr Klarheit zu erhalten, hat das Team von FixmyBerlin im Frühjahr 2020 gemeinsam mit der Berliner Zeitung Der Tagesspiegel die Umfrage „Der Straßencheck“ entwickelt. Den Teilnehmer*innen wurden online verschiedene Typen von Radinfrastruktur visualisiert, jeweils aus ihrer Perspektive als Radfahrer*in, Autofahrer*in oder Fußgänger*in. Per Mausklick konnten die Teilnehmer*innen entscheiden, in welcher Infrastruktur sie sich am sichersten fühlen.

Am schlechtesten schnitt dabei die Standardsituation auf deutschen Straßen ab: Radfahrer*innen im Mischverkehr. Das Bild zeigte die Fahrer*innen mittig auf der Fahrbahn, eine 50 auf dem Asphalt beschreibt die erlaubte Höchstgeschwindigkeit, rechts parken Autos. Gerade mal elf Prozent der Befragten empfanden diese Situation sicher. Entfielen die parkenden Autos, stieg das Sicherheitsempfinden auf 28 Prozent. Deutlich besser fühlten sich alle Verkehrsteilnehmer*innen, wenn Rad- und Autoverkehr voneinander getrennt wurden, zum Beispiel per Poller auf der Fahrbahn. Dann stieg ihr Sicherheitsgefühl auf über 80 bis annähernd 100 Prozent.

Über 3.000 computergenerierte Szenen kamen so zusammen, die mehr als 21.000 Teilnehmer*innen rund 470.000 mal bewerteten. „Einen ernsthaften Dialog kann ich damit zwar nicht abbilden“, sagt Heiko Rintelen, Geschäftsführer von FixmyBerlin. Aber die Planer*innen bekommen ein Gefühl dafür, welche Ideen akzeptiert werden und welche eher nicht.

Sämtliche Daten aus der Umfrage sind über die FixmyBerlin-Plattform im Rahmen der Lizenzierungsinitiative Open Data Commons öffentlich zugänglich (Datensatz im Format JSON, komprimiert (ZIP), Größe: 5,2 MB, Lizenz: ODbL) . Von Computerprogrammen können die Daten mithilfe von Programmierschnittstellen genutzt werden (sogenannten APIs, englisch für Application Programming Interface).

Porträtfoto Heiko Rintelen, Geschäftsführer FixmyBerlin
Heiko Rintelen, Geschäftsführer FixmyBerlin. Foto: Andreas Rehkopp

Mit der Umfrage hat FixmyBerlin die subjektive Sicherheit der Verkehrsteilnehmer*innen thematisiert. Das ist ein Novum denn diese wurde bisher kaum untersucht. Bislang galt unter Verkehrsplaner*innen der Grundsatz: Radfahrer*innen gehören auf die Fahrbahn, ins Sichtfeld der Autofahrer*innen. Dort sind sie objektiv am sichersten, an den Autoverkehr gewöhnen sie sich mit der Zeit.

Diese Planungsphilosophie stieß in der Bevölkerung allerdings auf wenig Zustimmung. Von 2002 bis 2017 stieg der Anteil der Radfahrer*innen am Gesamtverkehr gerade mal von neun auf elf Prozent. Parallel dazu stellten die Radfahrer*innen den Planer*innen beim ADFC-Klimatest regelmäßig schlechte Noten aus. Sie benoteten (auf Schulnoten basierend) das Fahren im Mischverkehr mit einer vier oder schlechter. Entscheider*innen und Planer*innen haben diese Ergebnisse lange Zeit ignoriert.

Für Tilman Bracher, Mobilitätsexperte am Deutschen Institut für Urbanistik (Difu), ist die Umfrage deshalb ein wichtiger Impulsgeber, um in die Debatte über die Verkehrswende und die Stadt der Zukunft einzusteigen. „Der Straßencheck schafft ein Bewusstsein dafür, dass der Raum neu verteilt werden muss“, sagt er. Vielen Städten fehle zurzeit ein Leitbild, eine Idee davon, wie Straßenräume zukünftig überhaupt aussehen könnten. „Sie wissen nicht, wie sie den Platz in der Stadt verteilen können“, sagt er. Der Straßencheck schafft dafür mit seinen Bildern eine gute Diskussionsgrundlage.

Zusammenhänge erkennen

Transparenz ist ein weiterer zentraler Aspekt bei der Verkehrsplanung. Das FixmyBerlin-Team aus Daten-, Kommunikations- und Verkehrsexperte*innen hat mit dem HappyBikeIndex eine interaktive Karte entworfen, die sämtliche Bauvorhaben für den Radverkehr und ihren jeweiligen Projektstand in der Hauptstadt anzeigt.

Mithilfe der Plattform können sich interessierte Bürger*innen nun jederzeit über die verschiedenen Bauprojekte informieren. „Anfangs fürchteten die Verwaltungen, dass die Beschwerden ansteigen“, sagt Heiko Rintelen. Aber das Gegenteil sei der Fall. Die Plattform entlaste die Behörden. „30 bis 50 Prozent ihrer Arbeitszeit haben die Mitarbeiter*innen früher für das Beantworten von Bürger*innenanfragen verwendet“, sagt er. Seit es die Karte gibt, seien die Anfragen deutlich zurückgegangen.

Außerdem sehen die Verkehrsplaner*innen nun erstmals, welche Pläne die Kolleg*innen in den Nachbarbezirken haben sowie den aktuellen Stand der Planung. Für Bracher ist das Fehlen eines solchen Werkzeugs ein Unding. „In Berlin planen 20 bis 30 Beteiligte parallel den Ausbau der Radinfrastruktur“, sagt er. Kaum einer weiß, was der andere macht. „Eine digitale Planungskarte, die sämtliche Pläne für alle Beteiligten sichtbar macht, sollte eigentlich längst Standard sein.“ Für ihn gehört dieses Tool zu einer modernen agilen Verwaltung. „Es schafft Transparenz und mehr Toleranz in der Bevölkerung, auch wenn sich Bauvorhaben mal verzögern“, sagt er.

Allerdings entfalten solche Tools nur dann ihre Wirkung, wenn sie kontinuierlich gepflegt werden. Ragnhild Sorensen, Sprecherin des Vereins Changing Cities, der in der Hauptstadt das Mobilitätsgesetz auf den Weg gebracht hat, bemängelt, dass regelmäßige Updates auf der Karte fehlen. „Für Menschen, die sich nur grob informieren wollen, reicht die HappyBikeIndex-Karte allerdings immer noch aus“, sagt sie.

Ihre Kritik zeigt: Digitale Tools können die Radverkehrsplanung in den Verwaltungen immer nur ergänzen, nie komplett ersetzen. Allerdings legen sie Schwachstellen schnell und gnadenlos offen. „Ein Radbügelmelde-Tool ersetzt kein umfassendes Parkraumkonzept“, sagt Bracher.

Das spürt auch Michael Pielen in Aachen. Bis Ende August meldeten die Bürger*innen über das neue Meldetool 1.600 Wunschstandorte für fast 9.000 Fahrradbügel. Mit der Umsetzung kam die Stadt kaum hinterher. Bislang hat sie erst 250 Fahrradbügel aufgestellt, denn jeder Standort muss einzeln geprüft und von Politik und Verwaltung genehmigt werden.

Um den Vorgang zu beschleunigen, hat die Stadt nun ein Gutachten in Auftrag gegeben, um zu erfahren, wo im Stadtzentrum dezentrale Abstellanlagen und größere Fahrradparkhäuser platziert werden könnten. Sind diese Plätze gefunden, können sämtliche Standorte auf einmal genehmigt werden.

Aufmacherfoto: Thomas Raich, via Flickr, CC-BY 2.0

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